Auf der Passhöhe des Gotthard.

Über den Gotthard an die Côte

31. Dezember 2022 | 0 Kommentare

Auf der Route durch die Zentralschweiz begegnet uns der große deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe. Über Genua und entlang der ligurischen Küste führt der Weg an die französische Riviera.

Es ist ungemütlich. Die grauen Wolken haben sich tief herabfallen lassen, sich an den Berghängen festgekrallt. Hin und wieder driften sie auseinander und geben den Blick auf die Gipfel der Zentralalpen frei: Dort oben liegt Schnee, der erste des sich ankündigenden Winters. Unten in Amsteg – immerhin schon auf 526 Metern Höhe, wo die Reuss aus dem Gotthardmassiv kommend durch das schmale Tal rauscht, pustet der Wind die bunten Blätter von den Bäumen und lässt sie auf der Kantonsstraße 2 tanzen. Sie schlängelt sich mitten durch das 400-Seelen-Dorf, das sich scheinbar auf den Winterschlaf vorbereitet. Vor dem Hotel „Stern und Post“ parken einige Autos. Reisende steigen aus, nehmen ihre Koffer und eilen ins Haus, einem der ältesten Hotels in der Schweiz, ein Gasthaus seit dem 14. Jahrhundert.

Drinnen ist es warm und gemütlich. Die Gastgeber Rolf Welti und Remo Vetter bereiten einen herzlichen Empfang. Die meisten Gäste sind auf dem Weg nach Süden und haben für den morgigen 1. Oktober 2022 die Wahl zwischen der Gotthard-Überquerung und der Fahrt durch den Gotthard-Straßentunnel. Welch ein Luxus auf der Reise nach Italien und Frankreich!

Goethe hatte keine Wahl

Diese Wahl hatte Johann Wolfgang von Goethe vor 225 Jahren nicht, als er im Restaurant des Gasthauses „Stern und Post“ speiste, der letzten Rastmöglichkeit vor dem Berg. Dem großen deutschen Dichterfürsten blieb bei seiner dritten Schweiz-Reise 1797 nur der Weg über den Pass: zu Fuß, beschwerlich und gefährlich, dazu Schnee. Wir schauen aus dem Fenster der holzvertäfelten Stube und fragen uns, welche Gedanken Goethe wohl durch den Kopf gingen. Wir haben es komfortabel: steigen ins Auto und lassen das Wetter entscheiden, ob wir über oder durch den Gotthard fahren.

Der erste Hauch von Winter auf dem Gotthard.

Wir nehmen die Passstraße. Inzwischen gut ausgebaut, randgesichert und mit griffigem Belag. Das wird sich auszahlen, denn oberhalb der Baumgrenze fällt Schnee. Von Amsteg im Kanton Uri bis nach Airolo im Tessin auf der Südseite des Gotthards sind es 48 Kilometer mit gut befahrbaren Kurven und maximal neun Prozent Steigung. Wer Lust hat biegt ab in die Schöllenenschlucht, schaut von der sagenumwobenen Teufelsbrücke hinunter auf die Reuss. Die alpine Landschaft ist ein Traum. Bei herbstlichem Schneegestöber und ab und an aufreißender Wolkendecke wirkt sie mystisch, geisterhaft, unwirtlich und dennoch beruhigend. Auf der Passhöhe von 2091 Meter schauen wir über den Lago della Piazza hinüber zum Gotthard-Windpark. Die Luft ist klar und rein. Hier oben sollte der Reisende auf jeden Fall das neue Museo Nazionale del San Gottardo besuchen. Eindrucksvoll erzählt es die Geschichte des Gotthard-Passes vom Mittelalter über den Bau des ersten Eisenbahntunnels (1882 eröffnet), des Straßentunnels (1980 eröffnet), des Gotthard-Basistunnels (2016 eröffnet) bis heute. Wer hochalpin eine Nacht genießen möchte, quartiert sich im Gotthard-Hospiz von 1237 ein. Erst kürzlich renoviert, mit raffinierter Innenarchitektur, gehört es zum Europäischen Kulturerbe.

Die Passhöhe: Hier geht es Richtung Norden oder Süden.

Wendepunkt und Ort der Selbstfindung

Auch Johann Wolfgang Goethe nächtigte hier, allerdings äußerst bescheiden. Der Weg des Dichters endete auf all seinen drei Schweiz-Reisen im Juni 1775, im November 1779 und im Oktober 1797 auf der Passhöhe. Überquert hat er den Gotthard nie, doch lernte Goethe die Natur und die Gewaltigkeit der alpinen Welt kennen und nahm sie literarisch in seinen Werken auf. So in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ in der dritten Strophe des Mignon-Gedichts:

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,

In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:

Kennst du ihn wohl?

Dahin! Dahin geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!

Hinunter nach Genua und zur ligurischen Küste

Wir fahren den Pass hinunter, weiter zum Luganer See, überqueren bei Chiasso die Grenze nach Italien. Vorbei an Mailand geht es über die spektakuläre Autostrada 7 über den Apennin nach Genua, der Hafenstadt mit der rund 35 Kilometer langen Küstenlinie und ihrem berühmten Sohn Christoph Kolumbus (1451-1506 in Valladolid, Spanien). Der Genueser Seefahrer entdeckte 1492 Amerika, als er auf einer Insel der Bahamas anlandete. Ein Zwischenstopp in der geschichtsträchtigen und inzwischen angesagten Stadt mit der flächenmäßig größten Altstadt in Europa lohnt sich.

Der Yacht- und Kreuzfahrthafen von Genua.
Die Altstadt von Genua.

Der ehemalige Industriehafen gleich gegenüber der Altstadt wurde 1992 anlässlich des Kolumbus-Jahres – 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas – vom Genueser Architekten Renzo Piano umgestaltet. Heute ist der Porto Antico Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt und Vergnügungsviertel. Sehenswert ist besonders das Galata Meeresmuseum, das größte seiner Art im Mittelmeerraum. Hier wird ergreifend die Beziehung zwischen Mensch und Meer inszeniert. Das Aquarium ist ebenfalls beliebtes Ziel. Auf den Molen reihen sich zahlreiche Restaurants aneinander. Besonders in den Abendstunden tummelt sich dort das junge Volk beim Apero. Ein Spaziergang durch die Genueser Altstadt mit ihren engen und dunklen Gassen, ihren schönen Plätzen und historischen Gebäuden ist ein Muss, bevor es auf der ligurischen Küstenstraße Richtung San Remo an die Côte d’Azur nach Menton und Nizza geht.

Die Küstenroute erfordert Geduld

Knapp 180 Kilometer sind es jetzt nur noch bis Menton, wo die Zitronen reifen. Für die Küstenstraße, die durch Touristenorte mit langer Tradition wie Savona, Finale Ligure, Alassio, Imperia und San Remo führt, braucht der Reisende viel Geduld, ganz besonders im Sommer. Jetzt im Herbst geht es ein wenig schneller. Fünf Stunden aber sind einzuplanen. Dafür gibt es traumhafte Aussichten auf das Mittelmeer, Einblicke in typisch italienische Ferienorte mit teils herrlichen Hotels aus der Belle Époque aber auch hässlichen Betonklötzen. Selbst jetzt im Oktober grünt und blüht es. Ein Mittagessen mit frischem Fisch direkt am glitzernden Meer bei Sonnenschein und Temperaturen deutlich über 20 Grad sagt uns, wir sind im Süden. Wer schneller sein Ziel an der Côte d’Azur erreichen möchte, nimmt die Autobahn E80, die sich oberhalb der Küste an den Berghängen entlang schlängelt. Die Strecke misst ebenfalls knapp 180 Kilometer, ist aber in gut zwei Stunden zu bewältigen.

Menton in der Dämmerung.

Die französische Riviera

Ventimiglia: Addio Italia! Menton: Bonjour la France! Das kurze Flüsschen Rio San Luigi, das oberhalb in den Seealpen entspringt, bildet die Grenze zwischen Italien und Frankreich. Auf der französischen Seite befindet sich die kleine Festung Pont-Saint-Louis, die Teil der alpinen Maginot-Linie war. Menton: Italienischer geht es eigentlich nicht. Die bunte und lebensfrohe Stadt klingt mehr italienisch als französisch. Pizza und Pasta in fast jedem Restaurant. Der Eismeister preist seine Kreationen in italienisch an. Die berühmte Menton-Zitrone (der werden wir uns demnächst noch ausführlich widmen) begegnet uns auf Schritt und Tritt: als köstliche Zutat in verführerischen Delikatessen, als künstlerisches Objekt auf Textilien und Keramiken, in Kosmetika und einfach als Zitrone. Der Ort mit seinen altehrwürdigen Hotels aus der Belle Époque, den typischen Stränden der Riviera und seiner Fröhlichkeit verströmt ein wenig das Flair von Nizza, ist aber familiärer und deutlich weniger mondän. Ein paar Tage Menton und dann nach Nizza – eine gute Entscheidung.

Angekommen in Nizza.

Das Hotel „Stern und Post“

Das historische Hotel „Stern und Post“, in dem Goethe mehrmals Quartier machte, liegt direkt an der Gotthardstraße in dem kleinen Dorf Amsteg, eingebettet im engen Tal der Reuss. Das Gasthaus wurde 1357 erstmals erwähnt. Der heutige Name beruht auf dem seit 1842 möglichen Postkutschenverkehr über den Gotthard. Das Drei-Sterne-Hotel mit 20 Zimmern, drei Stuben, Restaurant, Bar und schönem Garten gehört zu den Swiss-Historic-Hotels. Das ursprüngliche Haus fiel 1785 bei einem Dorfbrand den Flammen zum Opfer. Das heutige Hauptgebäude wurde an gleicher Stelle 1788/89 wieder aufgebaut. Eigentümer seit einigen Jahren sind Rolf Welti und Remo Vetter. „Wir wollen diese wunderbare Hotelanlage samt Garten auch in Zukunft unter Berücksichtigung des Denkmalschutzes restaurieren und erhalten“, versprechen sie. Viele alte Objekte, Bilder und Möbel sind in den prächtigen Stuben und hübschen Zimmern platziert. Der Reisende spüre noch heute die einzigartige Atmosphäre, als es noch ein Abenteuer war, den Gotthard zu überqueren, sagen die Gastgeber. In der Tat! Das Hotel öffnet am 30. März 2023 wieder. www.stern-post.ch

Hier nächtigte bereits Johann Wolfgang von Goethe.

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