Die Wetterprognose für den nächsten Tag ist nicht wirklich gut: Temperatur etwas über zwanzig Grad, bewölkt, vereinzelt Regenschauer. Nizza im Juni. Auch das ist möglich. Nach einem ungewohnt verregneten und kühlen Mai präsentiert sich auch der Juni an der Côte d’Azur noch nicht in bester sommerlicher Laune. Das ewige Blau am Himmel spielt Verstecken über weiß bis gräulichen Wolken. Es gibt Tage, an denen suchen Touristen vergeblich nach einer blauen Lücke, einem Sonnenstrahl, und diskutieren bei einem frühen Glas Rosé über den Klimawandel. Die Vorhersage bestätigt sich. Ein Tag am Strand wäre heute ein verlorener Tag entscheiden wir. Was wollen wir also tun? Darüber müssen wir nicht lange nachdenken. Nizza bietet nahezu unendlich viele Möglichkeiten, aus einem trüben Tag ein schönes und interessantes Erlebnis zu machen. Wir fahren mit dem Train des Merveilles – dem Zug der Wunder – in das Hinterland der angesagten Metropole am Mittelmeer.
Das Office de tourisme Menton Riviera wirbt zwar mit „einer der schönsten Zugreisen der Welt“, doch wir wollen den Ball etwas flacher halten. Eine Fahrt mit dem Train des Merveilles, der seit mehr als hundert Jahren von Nice-Ville bis auf über 800 Meter hoch nach Tende an der französisch-italienischen Grenze in den Alpes-Maritimes klettert – und wieder hinunter schaukelt, lohnt sich auf jeden Fall. Die Bahnstrecke ist eine technische Meisterleistung. Sie führt auf hundert Kilometer über rund hundert Brücken und Viadukte und durch nahezu gleich viele Tunnel. Diese winden sich in Schleifen durch den Berg, so dass der Zug durch viele Kurven an Höhe gewinnt. Zahlreiche Stützmauern verhindern das Abrutschen der Schienen. 1883 wurde mit dem Bau der Eisenbahnstrecke Nice-Breil-Tende begonnen, 1928 wurde sie eröffnet, damals ein Wunderwerk der Technik. Die Landschaft ist zerklüftet und wildromantisch. Und heute, an unserem Reisetag, besonders grün. Vor allem der Mairegen ließ die Flora üppig sprießen. Wenn der Zug an den kleinen Bahnhöfen hält, strömt der Duft der Nadel- und Laubgehölze sowie frischer Blüten in die Abteile.
Ein imposantes Bahnhofsgebäude und ein Fremdenführer
Für die Reise mit dem Train des Merveilles benötigt man einen Tag, hinauf nach Tende und wieder zurück. Wer die wunderschöne Natur und die Dörfer an der Strecke erkunden will, braucht einen Rucksack und zumindest eine Übernachtungsmöglichkeit. Wir werden hinauf nach Tende und mit dem Gegenzug gleich wieder hinunter bis Sospel, dem schönsten Dorf an der Strecke, fahren und es pünktlich zur Mittagszeit erreichen. Für alle Varianten empfiehlt es sich, den Fahrplan genau zu studieren, er wechselt nach Jahreszeiten. Bei der Abfahrt im Sommer um 9.15 Uhr begleitet ein Fremdenführer den Zug und kommentiert die Fahrt.
Von unserem Hotel an der Promenade des Anglais, dem Palais de la Mediterranée, schlendern wir über die Rue de Congrès und die Avenue Baquis einen Kilometer immer geradeaus zum Gare Nice-Ville. Rechts und links schöne Häuser der Belle Époque, kleine Gartenanlagen mit blühenden Bougainvillea und Jacaranda-Bäumen. Das imposante Bahnhofsgebäude wurde vom Pariser Louis-Jules Bouchot (1807-1907) im Stil Louis-treize entworfen und zwischen 1865 und 1867 gebaut. Bouchot war Chef-Architekt einer der wichtigsten französischen Eisenbahngesellschaften, PLM, und später Architekt der französischen Regierung. Der Train des Merveilles steht bereits am Gleis, und wir steigen in den modernen Nahverkehrszug ein. Nach einem freundlichen Bonjour des Zugbegleiters geht es los: hinaus aus der Metropole Nizza, durch Vororte, vorbei am Maison d’Arrêt, dem Gefängnis. Hier ist Nice, die Schöne, alles andere als schön. Vorstädte mit sozialem Wohnungsbau wie in jeder Großstadt. Das mondäne Flair der Côte d’Azur ist hier bereits weit weg.
Nach einigen Stationen ändert sich das Bild. Der Zug schraubt sich in die Alpes-Maritimes. Steil stürzen sich die Felswände in die tiefen Täler: das Bévéra-Tal, das Roya-Tal, das Paillon-Tal. In Breil-sur-Roya kann das Ökomuseum für Transportwesen besichtigt werden. Saorge, hoch über dem Fluss Roya, zählt zu den schönsten Bergdörfern in Frankreich. Tende ist eine befestigte mittelalterliche Stadt. Dort präsentiert das Musée des Merveilles interessante Dauerausstellungen zu Archäologie und Naturgeschichte sowie temporäre Ausstellungen. Und an allen Haltepunkten fasziniert die herrliche Natur. Aber wie gesagt: Dafür braucht man mehr als einen Tag.
Durchatmen in Sospel im Tal der Bévéra
Wir steigen in Tende, das auf 815 Metern liegt, gleich in den Gegenzug und fahren hinunter bis Sospel im Tal der Bévéra. Sogleich steigt uns betörender Blütenduft in die Nase. Zwischendurch hat es ein wenig geregnet. Die Luft riecht angenehm frisch. Nur ein paar Schritte sind es von der Bahnstation hinunter ins Dorf. Es ist Mittag und wir nehmen in einem der Terrassen-Restaurants mit Blick auf den Fluss Bévéra Platz. Bei Antipasti, Rosé und einem lautstarken Froschkonzert genießen wir das Ambiente. Auf der gegenüber liegenden Uferseite strahlen die gelb, ocker bis rot getünchten Häuser nicht nur Charme, sondern auch eine gewisse Ruhe aus. Über den Fluss führt eine Brücke aus dem 11. Jahrhundert. Die Altstadt ist mittelalterlich, ihr Mittelpunkt die Kathedrale Saint-Michel. Kopfsteingepflasterte enge Gassen mit vielen Stufen und wunderschöne Gärten und Terrassen an steilen Hängen machen Sospel so besonders. Am kleinen Bahnhof bewundern wir eine hübsche Gartenanlage mit Seerosenteich. Eine Gedenktafel erinnert an Alfred Borriglione, der 1841 in Nizza geboren wurde und 1902 in Sospel gestorben ist. Der einstige Bürgermeister von Nizza (1878-1886) und Mitglied der französischen Nationalversammlung widersetzte sich in jungen Jahren der Eingliederung Nizzas, das bis 1860 als Provinz Nizza dem Königreich Sardinien angehörte, in Frankreich. Borriglione änderte jedoch seine Meinung. Bis zur Abfahrt des nächsten Zuges nach Nizza gönnen wir uns noch einen Apéritif. Unser Fazit: Eine Fahrt mit dem Train des Merveilles sollte man nicht versäumen.
Die Strecke des Train des Merveilles, auch Tendabahn genannt, war nach dem schweren Alpenhochwasser im Oktober 2020 stark zerstört, der Ort Tende mehrere Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. Neben Tende waren auch Fontan und La Brigue überflutet. Die Strecke wurde wieder hergestellt. Sie ist nicht nur eine touristische Attraktion, sondern für die im Hinterland von Nizza und Menton lebenden Menschen auch eine wichtige Verbindung zwischen der Küste und den Dörfern in den Alpes-Maritimes. Bauarbeiten zur Erhaltung sind immer wieder erforderlich, deshalb wird die Strecke ab dem 2. September 2024 vorübergehend geschlossen.
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