Enge Gassen, steile Treppen, schmale alte Häuser – und bunt. Hauswände sind Leinwände. Graffiti-Kunst und Street-Art in höchster Performance. Ein einzigartiges Freiluftmuseum, gefördert von der Stadt, geschaffen für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2013. Das ist Le Panier, das älteste Viertel in Marseille. Eine Idylle: Pflanzen und Blumen verleihen das Flair eines mediterranen Dorfes. Viele Häuser sind restauriert. Kleine Plätze, Läden, Galerien, Boutiquen und Bistros verführen zum Verweilen, Entdecken, Einkaufen und Genießen. Die Atmosphäre ist ungezwungen. Ältere Kreuzfahrer, junge Backpacker, Studienreisende, verliebte Paare, Familien: Jeden Marseille-Besucher scheint es, ins Panier zu ziehen. Das Quartier ist längst ein Hotspot und so beliebt wie Montmartre in Paris. Es war eine richtige und kluge Entscheidung der Stadt Marseille, als sie ab 1970 mit der Sanierung des heruntergekommenen Viertels begonnen hatte.
Zerstörung und Wiederaufbau
Le Panier ist die Keimzelle Marseilles. Im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gründeten griechische Seefahrer die Siedlung Massalia, gelegen zwischen dem Meer und dem Hügel Saint-Laurent. Das Alte Marseille war wegen der Nähe zum Hafen von Migration geprägt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es verrufen, schmutzig und kriminell. Während der Besatzung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg galt das Viertel als Zelle des Widerstands. Das veranlasste die Wehrmacht im Februar 1943 zur Sprengung Hunderter Häuser im Le Panier. Nach dieser Tat blieb die Altstadt dem Verfall überlassen. Familien verließen das Viertel, Senioren blieben, Migranten und die Ärmsten der Armen kamen. Le Panier wurde zum sozialen Brennpunkt. Die 1970 gestartete Sanierung erwies sich als schwierig. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse und fehlende Finanzmittel lösten Skepsis bei der Stadtplanung aus. Zwanzig Jahre später waren erst 25 Prozent der Häuser restauriert. Doch am Ende ist der Erhalt des Viertels gelungen. Zwei Vorzeigeprojekte der Erneuerung sind die Vieillé Charité und das Hôtel Dieu. Das ehemalige Armenhospiz ist ein Museums- und Kulturzentrum. Das Krankenhaus aus dem 12. Jahrhundert ein Luxushotel, das 2013 eröffnet wurde.
Unser Spaziergang durchs Panier beginnt am Intercontinental Hôtel Dieu. Von der Restaurant-Terrasse hat man einen wunderschönen Blick auf die Basilika Notre-Dame-de-la-Garde und den Vieux Port hat. Nordwestlich des Hotels liegt das Panier. Wir gehen die imposante Auffahrt des Hotels, den Mont du Saint-Esprit, hinunter, halten uns rechts und nehmen wiederum rechts die Stufen des Mont des Accoules und steigen hinauf ins alte Stadtviertel. Wir schlendern durch die engen und steilen Gassen. Einen Stadtplan braucht man hier nicht. Die zahlreichen Graffiti-Kunstwerke an Häuser- und Mauerwänden zwingen zum Hinschauen und Interpretieren, lösen Gefühle von Bewunderung bis Ablehnung aus. Sie sind eben echte Kunst. Über die Rue du Panier geht es hinunter zum Hafen. Auf dem Platz vor der kunstvollen Cathédrale La Major aus dem 19. Jahrhundert beenden wir den Besuch im Panier.
Die Cosquer-Grotte
Seit Juni 2022 glänzt Marseille mit einem neuen Kulturangebot: die Cosquer-Grotte. Gleich neben dem Mucem wurde der detaillierte Nachbau der von Profitaucher Henri Cosquer entdeckten und später nach ihm benannten Steinzeithöhle eröffnet. Die Attraktion in der Villa Méditerranée, die teilweise unter Wasser liegt, kostete mal locker 23 Millionen Euro und erfährt äußerst regen Zuspruch. Ein imaginärer Aufzug bringt die Passagiere, ausgestattet mit Audioguides, auf eine nicht reale Wassertiefe von minus 37 Meter hinunter. Dort steigen sie in Vehikel ähnlich derer einer Geisterbahn und werden durch die – zugegeben teilweise sehr echt wirkenden Höhle – kutschiert. Disney-World lässt grüßen. Der Spaß für Erwachsene kostet 16 und der für Kinder 10 Euro.
Henri Cosquer (*1950) entdeckte die Höhle in der Calanque de la Triperie südöstlich von Marseille erstmals bei einem Tauchgang 1985. Der Eingang liegt 37 Meter unter dem Meeresspiegel. Durch einen 150 Meter langen und engen Unterwassertunnel gelangte er nach zahlreichen Versuchen 1991 in eine Tropfsteinhöhle mit prähistorischen Malereien und Gravuren. Die Steinzeithöhle ist mehr als 30.000 Jahre alt. Ihr Eingang lag knapp 100 Meter über dem Meeresspiegel. Aufgrund ihres sehr fragilen Zustandes steht sie inzwischen unter Naturschutz und ist geschlossen. Forscher nehmen an, dass die Cosquer-Grotte aufgrund des weiter ansteigenden Meeresspiegels bis zum Ende des 21. Jahrhunderts überflutet sein wird.
Monsieur le Comte wird auch in Marseille nicht zum Killer
Zum Abschluss noch ein wenig Krimi-Lektüre. Passt ja auch irgendwie zu Marseille. Pierre Martin nimmt den Leser in seinem zweiten Roman der Reihe Monsieur le Comte mit nach Marseille. Dort soll Lucien Comte de Chacarasse wieder einen Auftragsmord erledigen. So schreibt es die Familientradition vor. Doch Lucien, der jüngste Spross des Adels, lehnt das Töten konsequent ab. Er ist mit seinem Restaurant in Villefranche-sur-Mer glücklich, liebt das Savoir-vivre, den Wein und die Frauen. Also muss er sich erneut etwas einfallen lassen, damit sein Opfer Jacques Collard am leben bleibt. Der Chemiker deckte bei einem Pharmakonzern unseriöse Machenschaften auf und wurde gefeuert. Sein ehemaliger Arbeitgeber sähe ihn lieber tot als lebendig. Als Priester getarnt versucht Monsieur le Comte, Collard vom Erdboden verschwinden zu lassen, ohne ihm dabei ein Haar zu krümmen. Spannung gewürzt mit südfranzösischer Lebensart, das ist das neue Lesevergnügen von Pierre Martin in Monsieur le Comte und die Kunst der Täuschung, im November erschienen im Knaur-Verlag.
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