Durch Lavendelfelder führt der Weg hin zum Mont Ventoux, dem 1909 Meter hohen „Géant de Provence“ – dem Giganten der Provence. Während uns hier unten zu seinen Füßen der Fahrtwind die schon frühe Hitze des Tages erträglicher macht, wissen wir, dass die Pullover hinten auf der Rückbank bald zum Einsatz kommen werden. „Der Berg ruft“ nehmen wir Anleihe am Film von und mit Luis Trenker, dem Drama auf dem Matterhorn aus dem Jahre 1938. Doch was Touristen oben auf dem Kalkschotterfeld des Mont Ventoux erwartet, sind lediglich eiskalter Wind und bei gutem Wetter eine spektakuläre Sicht bis auf die Gipfel der Alpen und der Pyrenäen.
Der Anstieg beginnt im charmanten Sault
Wir nehmen den Anstieg von Sault aus, einem kleinen Bergdorf 15 Kilometer südöstlich des Mont Ventoux. Im Tal ringsum leuchten die violett blühenden Lavendelfelder. Der süßliche Duft der sich sanft im Wind wiegenden Blütenstände ist betörend. Im charmanten Ort mit seinen alten Häusern und kleinen Läden, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Viele Radfahrer versorgen sich hier noch einmal mit Proviant, bevor es auf der D 164 die 26 Kilometer hinauf auf den „Géant de Provence“ geht.
Der Anstieg aus Südosten ist der leichtere, was aber nur für die Radfahrer von Relevanz ist. Sie quälen sich hinauf zur Passhöhe, geraten dabei an ihre physischen Grenzen und bekommen einen Eindruck von den Strapazen, welche die Radprofis hier erleiden. Aber sie alle erreichen das Ziel. Chapeau! Am 7. Juli, bei der elften Etappe der Tour de France, werden die Profis den Gipfel des Mont Ventoux gleich zweimal erklimmen: zunächst von Sault aus und dann über den wesentlich schwierigeren Anstieg ab Bédoin.
Schon die Kelten begegneten dem Windigen Berg mit Ehrfurcht
Oben auf der Passhöhe von knapp 2000 Metern bläst der Mistral im Durchschnitt an 240 Tagen im Jahr. Nicht selten liegen die Windgeschwindigkeiten bei 90 Kilometern pro Stunde. Die Temperatur ist meist zehn Grad geringer als unten im Tal. Der Wind gibt uns eine Kostprobe seiner enormen Kräfte. Wir frösteln und denken, dass die Kelten wohl recht hatten. Sie sollen den Berg als Wohnsitz eines Windgottes verehrt haben. Wirklich belegt ist das nicht. Der Name Mont Ventoux leitet sich auf jeden Fall aus dem Lateinischen Mons Ventosus (Windiger Berg) ab. Und: Wind auf Französisch heißt „le vent“.
Der Mont Ventoux ist ein besonderer, ein mystischer Berg. Zusammen mit dem Massif de la Sainte-Baume und der Montagne Sainte-Victoire zählt er zu den drei Heiligen Bergen der Provence. Bekannt wurde er durch den italienischen Dichter Francesco Petrarca, der ihn 1336 bestieg und diese Tour in einem Brief an seinen Bruder beschrieb. Auch der provenzalische Dichter Frédéric Mistral kletterte den Windigen Berg hinauf. Damals wie heute übt der Gigant der Provence eine magische Anziehungskraft auf Reisende aus.
Regionaler Naturpark und Biosphärenreservat
Zu sehen gibt es oben auf dem einer Mondlandschaft gleichenden Schotterfeld nicht viel. Bei klarem Wetter reicht die Sicht aber weit über das Land bis hin zu den Alpen und den Pyrenäen. Das meteorologische Observatorium wurde 1882 gebaut. Heute sind dort auch Sendeanlagen untergebracht. Die Chapelle Saint-Croix stammt aus dem 15. Jahrhundert.
Das Kalkschotterfeld unterhalb des Gipfels ist nicht der Urzustand des Berges. Es entstand erst durch Rodung. Die Bäume wurden im Ancien Régime, der Zeit vor der Französischen Revolution (1712-1789), zum Bau von Kriegsschiffen gebraucht. Heute sind Teilbereiche wieder aufgeforstet, und Pflanzen der ursprünglichen Vegetation wieder angesiedelt. Sie können auf den beiden Fernwanderwegen abseits der fahrenden Touristen bewundert werden. Die Artenvielfalt von Flora und Fauna bildet am Mont Ventoux alle europäischen Klima- und Vegetationszonen ab. Die Unesco erklärte die Region 1990 zum Biosphärenreservat. Der gesamte Mont Ventoux ist mittlerweile regionaler Naturpark.
Malaucène: typisch provanzalisch
Für uns geht es nun wieder abwärts. Wir entscheiden uns für die Strecke nach Malaucène, dem Zielort der elften Tour-Etappe in diesem Jahr. Das kleine Städtchen mit weniger als 3000 Einwohnern kommt typisch provenzalisch daher. Ruhe und Beschaulichkeit machen sich rund um die Kirche Saint Michel breit, die Papst Clemens V. im 14. Jahrhundert erbauen ließ. Am 7. Juli wird es um die Ruhe im Dorf allerdings geschehen sein, wenn das Peloton der Tour de France nach der ersten Abfahrt vom Mont Ventoux durchfährt und nach der zweiten Gipfelpassage in Malaucène das Ziel passiert.
Der zweite Anstieg beginnt in Bédoin, wo wir uns mitten im Weinbaugebiet Côtes du Ventoux befinden. Das mittelalterliche Dorf ist bekannt für seine Qualitätsweine. Die Gewächse am Mont Ventoux sind leicht und fruchtig und für den baldigen Genuss vorgesehen. Den Hauptanteil des Ertrages stellen Rotweine aus der Cuvée der Trauben Grenache, Carignon, Cinsault, Mourvède und Shiraz.
Der tragische Tod des Tom Simpson
Für Freunde und Kenner der Tour de France hat der Mont Ventoux eine besondere, eine tragische Bedeutung. Hier fiel während der 13. Etappe am 13. Juli 1967 der britische Radstar Tom Simpson knapp 1500 Meter unterhalb des Gipfels vom Rad, kollabierte und starb kurz darauf. In seinem Blut fand sich eine Mischung aus Alkohol und Amphetaminen, die ihn an die Spitzengruppe heranführen sollte. Ein verhängnisvoller Mix, der ihn die Warnsignale seines Körpers nicht mehr spüren ließ.
Tom Simpson, 29 Jahre alt, war das erste prominente Dopingopfer des Radsports.
Ein Blick zurück: Bis in die 1960er Jahre war Doping offenkundig ein fast normaler Vorgang in der Radsportszene. Fahrer wurden als „rollende Apotheke“ tituliert. Und die Ärzte, die ihnen die Mittel verabreichten, galten nicht wie heute als Kriminelle, sondern als eine Art Dienstleister, von Veranstaltern und Verbänden geduldet. Daran änderte auch das 1965 in Frankreich erlassene Anti-Doping-Gesetz nichts.
Tom Simpson, britisches Radsport-Idol, hatte 1965 die Straßen-WM in Spanien gewonnen. Es folgten Siege bei Klassikern wie Mailand – San Remo, der Flandern- und der Lombardei-Rundfahrt. Auch das Gelbe Trikot der Tour de France hatte er schon getragen. Was fehlte, war der Gesamtsieg.
42 Grad im Schatten zeigt das Thermometer an diesem 13. Juli 1967, ein Donnerstag, in der Provence an. Nur, dass es auf dem Mont Ventoux, der von den Fahrern als „1909 Meter hohe Geröllhalde“ gefürchtet wird, keinen Schatten gibt. Höllisch heiß in der puren Sonne, saukalt im Mistral und feucht-kalt im Nebel, der nicht selten den Gipfel umhüllt. Für die Fahrer eine Belastung, die sie an ihre Grenzen und darüber hinaus führt. Tom Simpson fällt knapp unterhalb des Gipfels aus dem Sattel. „Put me back on my bike“ sollen seine letzten Worte gewesen sein. Heute erinnert am Todesort eine Gedenktafel an den Briten. Tour-de-France-Fahrer, die dort vorbeikommen, lassen noch heute eine Trinkflasche oder andere Utensilien zurück – als Zeichen des Gedenkens. Die Ermittlungen zum Tod von Tom Simpson wurden übrigens 1968 eingestellt. Doch die Erinnerung an die Tragödie bleibt.
Rolf Kiesendahl
Die elfte Etappe der Tour de France
- Bei der 108. Tour de France, dem bedeutendsten Radrennen der Welt, vom 26. Juni bis 18. Juli, steht der Gipfel des Mont Ventoux gleich zweimal im Mittelpunkt der elften Etappe am 7. Juli. Der Start des 199 Kilometer langen Teilstücks mit den zwei Anstiegen der ersten Kategorie erfolgt in Sorgues (Nord-Avignon). Über L’Isle-sur-la-Sorgue, Roussilion und Apt geht es nach Sault. Von dort geht es von 750 Meter auf die Passhöhe von 1909 Meter des legendären Berges. Dann geht es abwärts nach Malaucène und weiter nach Bédoin, wo der zweite und wesentlich schwierigere Anstieg beginnt. Oben angekommen geht es wieder nach Malaucène, dem Etappenziel.
- Christian Prudhomme, seit 2007 Direktor der Tour de France sagt: „Fünf Jahre nach einer Stippvisite kommt die Tour zurück und bleibt diesmal länger am Riesen der Provence. Der Mont Ventoux wird gleich zweimal bezwungen, mit einem quasi neuen Anstieg über Sault, und die Zieleinfahrt liegt zu seinen Füßen. So soll die Initiative des Rats des Départements Vaucluse gewürdigt werden, die die Pässe für Radfahrer instandgesetzt hat.“
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