Saint-Paul-de-Vence – offenbar ein Must-to-do für jeden Provence-Touristen. Warum eigentlich? Was zieht Tausende von Besuchern besonders in den warmen Monaten in das 3000-Seelen-Bergdorf im Hinterland von Nizza? Welcher Geist schwebt in den engen und steilen Gassen dieser ehemaligen Festung aus dem Mittelalter? Das Dorf, durchaus sehenswert, schön und schmuck wie viele andere in der Provence, versprüht im Sommer eher den Charme einer überfüllten Einkaufspassage. Ganz anders präsentiert sich die unterhalb des Dorfkerns liegende Fondation Maeght, ein außergewöhnliches Museum für zeitgenössische und moderne Kunst, geschaffen 1964 als private Stiftung von Marguerite und Aimé Maeght. Das Haus ist ein Meisterwerk der Architektur. Frappant: der Besuch des Museums und der Spaziergang durchs Dorf – egal in welcher Reihenfolge.
Von der Küste fahren wir die wenigen Kilometer hinauf nach Saint-Paul-de-Vence und parken in der mehrere Etagen tief in den Felsen geschlagenen Tiefgarage. Der Aufzug entlässt uns oben in ein Wirrwarr aus Klamotten, Kitsch und typischen Provence-Souvenirs. Über die Route de Vence marschieren wir mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten – die etliche Busse gerade ausgespuckt haben müssen – in Richtung Festung. Auf der linken Seite liegt das berühmte Hotel-Restaurant La Colombe d’Or. Ein paar Schritte weiter stehen wir auf dem Place du Jeu de Boules. Im Café de la Place finden wir zwei Plätze auf der Terrasse und lassen die Szenerie auf uns wirken, versuchen herauszufinden, warum dieser Ort die Anziehungskraft eines Magneten besitzt.
Die Rechnung mit einem Bild bezahlt
Da wäre das legendäre Colombe d’Or: 1920 von Paul Roux eröffnet als kleine Bar mit Gartenterrasse und Tanz am Wochenende, getauft auf den Namen Chez Robinson. Schnell entwickelte sie sich zu einem Treffpunkt für Künstler, besonders als sich herumgesprochen hatte, dass die Zeche auch schon mal mit einem Bild bezahlt werden durfte. So entstand über die Jahrzehnte eine imposante Sammlung mit Werken von Malern wie Pablo Picasso, Marc Chagall, Henri Matisse, Fernand Léger, Georges Braque, Miró oder Yves Klein. Noch heute können Gäste des exquisiten Hauses die Bilder bewundern oder den Geist großer Literaten wie Jean Paul Sartre, Klaus und Erika Mann sowie des Regisseurs und Autors Orson Welles spüren. Oder sind es Schauspieler und Prominente wie Charlie Chaplin, Simone Signoret, Alain Delon oder gar Madonna und Johnny Depp, deren Aura das Publikum anzieht und das Colombe d’Or und Saint-Paul zu einer Art Wallfahrtsort macht? Ganz sicher erhofft sich der eine und andere Reisende, bei einem Glas Rosé im Café de la Place ausharrend, einen Blick auf ein Mitglied des aktuellen Jetsets zu werfen. Durchaus möglich, wenn unten am Meer die Filmfestspiele in Cannes ablaufen.
Hinter den historischen Mauern der Häuser längs der Rue Grande – ein Parcours über holprige Pflastersteine – haben Galerien, Boutiquen und Restaurants Einzug gehalten. Bougainvillea von weiß bis tiefrot klettern an den Hausfassaden empor, enge Gassen und steile Treppen sind beliebte Fotomotive. Am Ende der Rue Grande öffnet sich das Dorf zu einer Terrasse und gewährt eine Panoramasicht auf das Umland. Unterhalb der alten Stadtmauer liegt der Friedhof, der im Sommer eher selten ein Ort der Ruhe und des Friedens ist. Das Grab von Marc Chagall, in jedem Reiseführer erwähnt, ist das Ziel der Touristenscharen.
Der Friedhof und ein unscheinbares Steingrab
Marc Chagall, je nach Kalender am 24. Juni (julianisch) oder 7. Juli (gregorianisch) 1887 in Wizebsk im Russischen Kaiserreich, heute Belarus, geboren, lebte von 1966 bis zu seinem Tod am 28. März 1985 in Saint-Paul-de-Vence. In seinem unscheinbaren Steingrab ruhen auch seine zweite Frau „Vava“ Valentina Chagall und deren Bruder Michel Brodsky. Chagall, mit Geburtsnamen Moische Chazkelewitsch Schagal, stammt aus einer armen und kinderreichen jüdischen Familie und ist einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Auch, wenn er während seines Lebens an der Côte d’Azur Natur und typische Mittelmeerlandschaften malte, zählt Chagall nicht zu den repräsentativen Provence-Malern wie Cézanne, van Gogh oder Matisse. Sein Werk ist vielfältiger. Sein Stil änderte sich im Laufe seines fast 100jährigen Lebens, in dem er beide Weltkriege und die Judenverfolgung in Europa miterlebte.
1910 ging er erstmals nach Paris und bezog sein eigenes Atelier in der Nähe des Gare Montparnasse. Den Ersten Weltkrieg erlebte er in Russland. In den folgenden Jahren nahm das Interesse an seinen Bildern in der Heimat ab. Sie entsprachen nicht der kommunistischen Ideologie. 1923 ging er mit seiner Familie wieder nach Paris und wurde zunehmend populär. Finanziell gesichert, reiste Chagall in den Süden Frankreichs und in andere Länder. Erst die Judenverfolgung lähmte ihn. 1941 wurde er in Marseille festgenommen. Der Auslieferung an die Deutschen entkam er nur knapp. Eine Einladung des Museums of Modern Art in New York verhalf ihm und seiner Familie zu einer Passage in die USA. 1946 kehrte er zurück nach Frankreich, blieb zunächst in Paris. „Meine Kunst brauchte Paris so nötig wie ein Baum das Wasser“, wird er zitiert. 1949 ließ er sich endgültig in der Provence nieder.
Das Lebenswerk von Marc Chagall umfasst Bilder, Mosaiken, Kirchen- und Synagogenfenster – Religionszugehörigkeit spielte für ihn keine Rolle, Gobelins, Skulpturen, Keramiken und Theaterkulissen. Symbole aus der Bibel, dem Zirkus und seiner russischen Heimat tauchen immer wieder auf.
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