Mistral zieht auf und fegt die letzten Wolken vom Himmel.

Mistral, der aufbrausende Wind der Provence

9. November 2024 | 0 Kommentare

Ein strahlend blauer Himmel, eine gigantische Fernsicht, ein imposantes Sternenzelt und gefühlt eisig kalte Temperaturen sind die Kennzeichen des Fallwindes aus dem Norden. Er formt Landschaften oder zerstört sie. Er schädigt oder hilft der Natur. Und er fesselt Menschen – damals wie heute.

Er ist nicht unbedingt ein Freund von Provence-Reisenden. Sie möchten ihm nicht wirklich begegnen, gleichwohl er auch gute Seiten hat. Trifft man ihn an, kann das Rendezvous ein kleines Abenteuer werden. Man sollte nicht zu sehr mit ihm auf Tuchfühlung gehen, ihn besser aus geschützter Position kennen lernen: also im Haus bleiben oder mit dem Boot einen Hafen anlaufen. Denn er ist aufbrausend, unbändig und erbarmungslos. Er spielt mit Natur und Mensch, und er gewinnt: der Mistral – der unbarmherzige Fallwind aus dem Norden, der die Provence prägt. … Mistral, der ohne Unterbrechung, ohne Hindernis weht und der mit seinem mächtigen Atem die Landschaft plattzudrücken, zu weiten scheint. Alles beugt sich vor ihm. Die kleinen Sträucher tragen das Zeichen seines Vorüberziehens, bleiben gekrümmt davon und flach nach Süden hingestreckt in der Haltung einer immerwährenden Flucht… schreibt der französische Literat Alphonse Daudet (1840-1897) in seiner Erzählung In der Camargue.

Mythen und Legenden erzählen vom Mistral, der Landschaften formt oder sie zerstört. Der Steine abträgt und Bäume biegt. Launisch kommt er daher, der Meister und Gebieter wie er gern genannt wird. Er fegt das Rhône-Tal von Norden hinunter, tobt in der Provence und im Languedoc, treibt auf dem Mittelmeer sein Unwesen bis er nach Westen dreht und ihm allmählich die Puste ausgeht – sommers wie winters.

Markante Begleiterscheinungen

Wir kennen le vent sehr gut. Nicht selten begrüßt er uns schon hinter Lyon auf der A7, der Autoroute du Soleil. Bäume und Sträucher führen einen wirren Tanz auf. Die Geschwindigkeit wird auf 110 Stundenkilometer beschränkt. Wohnwagen geraten hinter Pkw ins Schlingern. Das Lenkrad fest in beiden Händen gilt es, die Spur zu halten. Die heftigen Böen verlangen hoch konzentriertes Fahren. Und über uns ein strahlend blauer Himmel wie er intensiver nicht leuchten kann. Das passt irgendwie nicht zusammen, gehört aber zusammen. Der wolkenlose Himmel am Tag, eine gigantische Fernsicht, ein imposantes Sternenzelt, und Temperaturen, die so extrem abkühlen, das selbst im Sommer ein dicker Pullover angebracht ist, sind die markanten Begleiterscheinungen des Mistral.

Gefährlich: hohe, kurze und quer verlaufende Wellen.

Der kalte Fallwind aus dem Norden nimmt im Rhône-Tal kräftig an Fahrt auf. Die Alpen im Osten und die Cevennen im Westen begrenzen das Flusstal, bilden einen Kanal, in dem der Mistral hohe Windgeschwindigkeiten bis hin zu Orkanstärke erreicht. In Marseille angekommen, trifft er mit voller Wucht auf das Mittelmeer und lässt gefährliche hohe, kurze und quer verlaufende Wellen entstehen, die selbst für große Fähren und Kreuzfahrtschiffe das Manövrieren zu einer schwierigen Aufgabe machen können. Für kleinere Boote besteht die Gefahr, aufs Meer hinaus getrieben zu werden. Einen sicheren Platz im Hafen anzusteuern, ist auf jeden Fall eine kluge und mitunter lebensrettende Entscheidung. „Jetzt sitzt man besser in einem soliden Haus vor dem Kamin“, sagt ein Fischer, der die Unberechenbarkeit des tückischen Windes nur zu gut kennt. Die Côte d’Azur zwischen Toulon und Menton bleibt zumeist verschont. Dafür sorgen die Maritimen Alpen im Hinterland, die eine Art Sperrwerk bilden. Mitten im Rhône-Tal stellt sich der gut 1900 Meter hohe Mont Ventoux dem Mistral in den Weg. Aufhalten kann er ihn aber nicht. Wegen der enormen Windgeschwindigkeiten ist der Géant de Provence im Winter gesperrt. 1967 wurden gar 320 Stundenkilometer gemessen! Selbst im Hochsommer muss auf dem Gipfel mit heftigen Böen und niedrigen Temperaturen gerechnet werden.

Schräglage gen Süden.

Der Mistral ist berüchtigt für seine Aggressivität und Hinterhältigkeit. Glaubt man während ein paar windstiller Minuten, dass er sich verflüchtigt hat, wird man unversehens eines Besseren belehrt: Mit unverminderter, wenn nicht heftigerer Brutalität greift er wieder an und zerstört, was nicht niet- und nagelfest ist. Die zahlreichen Zypressenhecken in der provenzalischen Landschaft sollen seine Kraft mindern, die Obstplantagen schützen. Der trockene Wind entzieht dem Boden zudem Feuchtigkeit und schürt dadurch im Sommer die Waldbrandgefahr. Doch der gefürchtete Mistral hat auch seine guten Seiten. Nach Regenfällen trocknet er die Weinreben und verhindert so Fäulnisbildung. Pilze und Schädlinge breiten sich kaum bis gar nicht aus. Und die Olivenbäume würden ohne ihn keine Früchte tragen, denn der Mistral bläst die Pollen von einem zum anderen Baum. In der Camargue wäre die Gewinnung von Meersalz ohne den Wind und die Sonne nicht möglich. Doch der Mistral und seine kalten Gefährten aus dem Norden werden schwächer. Davon gehen Wissenschaftler aus und nennen den Klimawandel als Grund.

Faszination Mistral

Die Naturgewalt des Windes fasziniert damals wie heute die Menschen. Besonders Kreative lassen sich in seinen Bann ziehen, sich von ihm inspirieren. So wie der niederländische Maler Vincent van Gogh. In seinen letzten Schaffensjahren in Arles und Saint-Rémy-de-Provence kämpfte er immer wieder mit dem Mistral, wenn er im Freien malte. Einfallsreich verankerte er seine Staffelei im Boden. Lies der Wind nach und die Abenddämmerung mit dem prächtigen Farbenspiel am Himmel brach herein, verewigte der große Meister das Szenario auf der Leinwand.

Die amerikanische Fotografin Rachel Cobb war bereits mit 13 Jahren, als sie zum ersten Mal in die Provence kam, vom Mistral infiziert. Die meisten Menschen assoziieren den Gesang der Zikaden in der Hitze mit der Provence. Für mich war das der Wind. Der Mistral ist wie ein unsichtbarer Geist, der über die raue Schönheit der Provence schwebt, wird sie in France today zitiert. Auf mehr als 100 Fotos hat sie die Macht des Windes dokumentiert. „Ich bin total besessen und werde den Mistral mein Leben lang fotografieren“, sagt Rachel Cobb in einer Arte-Reportage über den Wind. Ihr bemerkenswertes Fotobuch Mistral: The Legendary Wind of Provence ist 2018 erschienen.

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