Im gleißenden Sonnenlicht glitzern die weißen Berge und wetteifern mit dem Tiefblau des Himmels um die Strahlkraft. Die Augen blinzeln. Bei dieser Farb- und Lichtintensität ist die Sonnenbrille unverzichtbar. Schnee im Oktober in der Provence? Undenkbar. Und doch sieht es hier aus wie in einem erstklassigen Skigebiet. Wir sind in der Saline bei Aigues-Mortes in der Petite Camargue, den größten Salzgärten in Südfrankreich. Die 5000 Hektar zeigen sich im Herbst von ihrer besonders attraktiven Seite. Denn jetzt ragen die Montagnes de sel über zwanzig Meter hoch auf. Die Salzkristalle funkeln wie Diamanten. Das Weiß und das Blau konkurrieren mit dem Pink des Meerwassers in den flachen Becken um die Vorherrschaft. Mikroalgen lassen das Salzwasser in dieser ungewöhnlichen Farbe leuchten.
Einen dieser gigantischen Salzberge dürfen Besucher sogar hinaufkraxeln. Rutschgefahr besteht keine. Vom Gipfel aus erstreckt sich der Blick nach Süden bis hin zum Meer. Im Norden liegt das von Sümpfen umgebene mittelalterliche Festungsdorf Aigues-Mortes, was aus dem Lateinischen und Okzitanischen übersetzt totes Wasser heißt. Einige pinkfarbene Flamingos gleiten in unmittelbarer Nähe vorbei und suchen einen sicheren Landeplatz in einem der Wasserbecken.
Die Sauniers ernten traditionell in Handarbeit
Jetzt im Spätherbst ist die Erntezeit des weißen Goldes in den Salzgärten. Hier wird hauptsächlich Speisesalz gewonnen, während das Salz der Salin de Giraud an der Rhône-Mündung in erster Linie für die chemische Industrie bestimmt ist. Rund 500.000 Tonnen werden jährlich in der Salin d’Aigues-Mortes geerntet – und zwar in Handarbeit, so wie vor mehr als 1500 Jahren schon. Zehn Salzarbeiter, die Sauniers, sind dafür verantwortlich. Ihr Können wurde – und wird – über Generationen in den Familien weitergegeben.
Ab März werden über ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem die viereckigen flachen Becken mit Meerwasser geflutet. Die Sonne und der Wind, hier im Midi reichlich vorhanden, lassen das Wasser verdunsten. An der Oberfläche bilden sich feine Salzkristalle. Zwischen Juni und September ist das beste Salz, das fleur de sel – die Blume des Salzes, reif. Sehr vorsichtig, damit die zarten Kristalle nicht zerstört werden, schöpfen die Sauniers dieses Luxusprodukt ab. Ab September werden die Salzkristalle dann schwerer und fallen zu Boden. Dieses sel gris – graues Salz – wird mit Schaufeln zusammengeschoben. Die Ernte wird schließlich zu den Montagnes de sel aufgetürmt, getrocknet und weiterverarbeitet. Im November ist die Erntezeit vorbei. Die Sonne hat nicht mehr genug Kraft, um für eine hohe Verdunstung zu sorgen.
Die Salin d’Aigues-Mortes wurden 1856 von unabhängigen Salzbauern gegründet. Die Salzgärten erstrecken sich von Norden nach Süden über 18 Kilometer und von Osten nach Westen über 13 Kilometer. Sie können von März bis in den November hinein zu Fuß, mit dem Rad, dem Auto oder dem Petit train erkundet werden.
Das Städtchen Aigues-Mortes
Die Geschichte des heute rund 8500 Einwohner zählende Städtchen reicht bis 100 v. Chr. zurück. Im 10. Jahrhundert taucht der Name erstmals auf. Aigues-Mortes war ursprünglich eine Hafenstadt in der Lagune und durch Kanäle mit dem Meer verbunden. Durch Trockenlegung der Sümpfe sind es nun sechs Kilometer bis zur Mittelmeerküste.
Ludwig IX., der Heilige, kaufte 1240 das Areal, das den Königen von Aragón gehörte. Die Provence zählte zum Heiligen Römischen Reich. Durch den Kauf kam Frankreich in den Besitz von Land im Süden und mit dem Bau der Stadt als Bastide ab 1248 zum ersten Mittelmeerhafen. Die bis heute vollständig erhaltende Stadtmauer – ein Viereck – mit Wehrgang und zehn Stadttoren ließen Ludwigs Nachfolger erbauen.
Aigues-Mortes ist eine der größten erhaltenen mittelalterlichen Festungsstädte. Ein Spaziergang in den engen schattigen Gassen mit kleinen Lädchen und Restaurants ist durchaus lohnenswert, auch wenn der historische Ort an manchen Tagen touristisch überlaufen ist. Vom 1634 Meter langen Wehrgang aus ergeben sich interessante Perspektiven auf das weite Sumpfland und die Salzgärten.
Die Camargue
Mit 750 Quadratkilometern ist die Camargue das größte Flussdelta in Westeuropa und Naturschutzgebiet. Die gefühlt unendliche Sumpflandschaft südlich von Arles liegt hauptsächlich zwischen den beiden Mündungsarmen der Rhône, umfasst aber auch Gebiete östlich davon und westlich die Petite Camargue. Die Fläche wird landwirtschaftlich genutzt für Obst-, Gemüse-, Wein- und vor allem Reisanbau. Die Stierzucht für die Fleischproduktion ist ein großer Wirtschaftsfaktor. Die weißen Pferde leben noch halbwild in dieser dem US-Bundesstaat Florida ähnelnden Landschaft – wozu auch die Flamingos beitragen. Der Rosaflamingo, der Wappenvogel der Camargue, lebt in Europa an den Atlantikküsten Spaniens und Portugals sowie an den Küsten des Mittelmeers. Er ist also nicht aus Florida importiert. Rund 200 Vogelarten, die meisten geschützt, haben in diesem Sumpfgebiet ihre Heimat.
Neben der wunderschönen Flora und Fauna übt der Wallfahrtsort Saintes-Maries-de-la-Mer an der Rhônemündung große touristische Anziehungskraft aus. Hier leben knapp 2200 Menschen. In den Sommermonaten strömen Zehntausende in das weiße Städtchen mit der Kirche Notre-Dame-de-la-Mer aus dem 14. Jahrhundert. Sie wurde während der Französischen Revolution teilweise zerstört und 1873 restauriert. Der wissenschaftlich nicht bestätigte Fund von Reliquien der Heiligen Maria Kleophae und Maria Salome bescherten dem Ort Marienkult. Jeweils am 24./25. Mai und Ende Oktober finden Wallfahrten statt. Die im Mai gilt auch der Schwarzen Sara, der Schutzheiligen der spanischstämmigen Roma.
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