Obwohl es in Strömen goss, weigerte sich der Taxifahrer, in die kleinen Gassen vorzudringen. Er setzte ihn an der Montée-des-Accoules ab. Über hundert steile Stufen und ein Gewirr von Straßen lagen bis zur Rue des Pistoles noch vor ihm. Der Boden war mit aufgerissenen Müllsäcken übersät, und ein säuerlicher Geruch stieg von der Straße auf, eine Mischung aus Pisse, Feuchtigkeit und Schimmel. Einzige große Veränderung: Die Renovierungswelle hatte das Viertel erreicht. Einige Häuser waren abgerissen worden. Die Fassaden der anderen waren neu gestrichen, ocker oder rosa mit grünen oder blauen Fensterklappen. …
So schreibt Jean-Claude Izzo, der 1945 in Marseille geboren wurde und 2000 ebenda starb, in seiner Roman-Trilogie (1995-1998). Die Recherchen des Autors im kriminellen Milieu haben nicht jedem gefallen. Izzos Krimi-Held, Kommissar Fabio Montale, kämpft vor der Jahrtausendwende gegen das mafiöse Verbrechen in der Hafenstadt am Mittelmeer. Gewonnen hat er den Kampf nicht. Ein Vierteljahrhundert später ist die Drogenkriminalität weiterhin das größte Problem in Marseille. Täter werden zu Opfern, Opfer zu Tätern – junge Menschen mit schlechter Bildung, sozial abgehängt im Getto der Nordstadt, da wo kein Tourist hingeht. 2023 wurden 49 Menschen in der Drogenszene getötet. Immerhin: Die Polizei verfügt seit einigen Jahren über deutlich mehr Personal. Inzwischen werden mit knapp 2000 Videokameras öffentliche Orte in der Innenstadt überwacht. Eine angekündigte Justizreform soll das Verbrechen eindämmen.

Eine Stadt mit überaus reicher Geschichte
Marseille, das Tor zum Mittelmeer: ein Ort, den man also meiden sollte? Keinesfalls. Auch New York, Hamburg und das Ruhrgebiet haben ihre Probleme, die ebenso häufig unreflektiert in den Vordergrund geschoben werden. Unkundige heften Marseille das Klischee der verruchten Hafenstadt an. Menschen, die nie dagewesen sind, oder als Kreuzfahrttouristen mal kurz die Nase reingesteckt haben, beschreiben Frankreichs zweitgrößte Stadt mit 880.000 Einwohnern als heruntergekommen, dreckig, kriminell. Dabei ist Marseille – gegründet 700 Jahre vor unserer Zeitrechnung von griechischen Seefahrern und -händlern, während der Konflikte mit den Galliern von den Alten Römern annektiert – eine Stadt mit überaus reicher Geschichte. Ohne Massalia (altgriechisch) oder Massilia (lateinisch) würde es die heute von Reisenden aus aller Welt so beliebte Provence mit Olivenbäumen, Weinreben und Lavendel nicht geben. Durchschnittlich fünf Millionen Touristen pro Jahr, mit steigender Tendenz, sind ein Plädoyer für Marseille, das sich als eine nachhaltige, engagierte und vielfältige Stadt sieht.
Ein erfolgreiches Stadterneuerungsprojekt
Ende der 1990er Jahre war ich zum ersten Mal in Marseille, komme immer wieder und gehöre zu der stetig wachsenden Fangemeinde dieser Metropole, die bei jedem Besuch aufs Neue überrascht. Das 1989 begonnene Stadterneuerungsprojekt Euromediterranée überzeugt. Direkt am Meer glitzert eine Skyline aus Glas und Beton, lädt eine Waterfront mit Geschäften, Restaurants und Hotels zum Bummeln ein. Moderne Anlagen für Fähr- und Kreuzfahrtschiffe, Büros, öffentliche Einrichtungen, Wohnungen, Grünflächen und das Mucem, das Museum der Zivilisationen Europas, haben Marseille in die Zukunft katapultiert.

Der Kontrast: das älteste Stadtviertel Le Panier, ein einzigartiges Freiluftmuseum, dessen Sanierung und Restaurierung fortschreitet. Hauswände sind Leinwände: Graffiti-Kunst, Street-Art in höchster Performance. Maroder Charme, Pflanzenkübel in engen Gassen und auf steilen Treppen. Eine junge alternative Szene mischt sich mit den noch wenigen älteren Bewohnern. Kleine Restaurants und Bistros verströmen die Aromen des Meeres, der Provence, der Maghreb-Staaten und der französischen Überseegebiete. Le Panier, die Keimzelle von Marseille, ist bei Jung und Alt so beliebt wie Montmartre in Paris.
Der 2002 eröffnete Straßentunnel unter dem Vieux Port verbannt den Durchgangsverkehr aus der Altstadt. Der Alte Hafen ist Heimat kleiner Fischerboote. Der Fang wird direkt am Kai verkauft. Doch die großen Fangflotten bedrohen die alte Tradition. In Marseille wurde die Bouillabaisse, das provenzalische Fischgericht, erfunden und wird so ziemlich in jedem Hafenrestaurant serviert. Aber Vorsicht: Die Qualität ist nicht immer gut, auch ein hoher Preis ist keine Garantie. Dafür ist der Blick auf Yachten und die Fähren zu den Calanques und den Frioul-Inseln von jedem Bistrotisch wunderschön. Gleich hinter dem Quai de Rive Neuve laden die Grandes Halles du Vieux Port zu frisch zubereiteten mediterranen Köstlichkeiten ein. Ein beliebter Treffpunkt nach Feierabend.
Radikale Fußballfans und traumhafte Sonnenuntergänge
Marseille: ein Konglomerat aus 111 Dörfern, langgestreckt an der Mittelmeerküste, im Hinterland geschützt durch mehrere Gebirgsketten. Die Fläche ist doppelt so groß wie die von Paris. In der dicht bewohnten Altstadt rund um den Vieux Port, hinauf zum Bahnhof Saint-Charles und dem Marktviertel Noailles präsentiert sich eine kulturelle und ethnische Vielfalt, die ihres Gleichen sucht. Ganz anders Saint-Giniez mit dem Stade Vélodrome, der Heimat von Olympique Marseille, dem Fußballklub mit den radikalsten Fans. Quasi gleich nebenan moderne und bewachte Appartementanlagen für die betuchten Marseillains, der Parc Borély mit seinem Château, die ausgedehnten Strände, der neue Yachthafen für die Olympischen Spiele 2024 und das außergewöhnliche Designhotel nhow lassen Kriminalität und Verkehrschaos vergessen. Längs der Corniche Président-John-Fitzgerald-Kennedy treffen sich Einheimische und Touristen bei traumhaften Sonnenuntergängen am Strand oder in einem der vielen guten Restaurants mit Meerblick. Apropos Gastronomie: Marseille bietet eine schier unglaubliche Vielfalt an kulinarischen Genüssen. Die Stadt entwickelt sich gerade zu einem der spannendsten Food-Hot-Spots Europas, schrieb unlängst die renommierte Neue Züricher Zeitung.

Man braucht Zeit, um die Stadt kennen zu lernen, ihren Pulsschlag zu fühlen, sich auf sie einzulassen. Marseille ist eine ungeschminkte Schönheit mit viel natürlichem Charme, aber auch eine an Bedeutung zunehmende Metropole. Allein die größte Universität der Nation, Aix-Marseille, steigert das Prestige, zieht Jugend und junge Unternehmen in die zweitgrößte Stadt Frankreichs. Und ein Geheimtipp für Touristen ist Marseille längst nicht mehr.
300 Sonnentage im Jahr

57 Kilometer Küstenlinie, 300 Sonnentage im Jahr, größter Kreuzfahrthafen in Frankreich und viert größter am Mittelmeer, zweit häufigste gefilmte Stadt in Frankreich, 250.000 Mitglieder in Sportvereinen, 145 Hotels. Bedeutender Wirtschaftsfaktor ist der Passagier- und Handelshafen Europort Marseille-Fos: 70,5 Millionen Tonnen Umschlag, 1,45 Millionen Standardcontainer, 2,4 Millionen Kreuzfahrtpassagiere, 1,5 Millionen Passagiere auf regulären Routen (laut Hafenbehörde für 2024). Digitale Technologien, Luft- und Raumfahrttechnik, Logistik und Tourismus sind weitere wichtige Geschäftszweige. Ein vielfältiges Kulturangebot mit mehr als 30 Museen, Theatern und einer Oper, Konzerten, Straßenkunst und Festivals zeichnen die Stadt der Olympischen Segelwettbewerbe 2024 aus. Fazit: Marseille ist eine Reise wert.
In diesem Sinne liebe Leserinnen und Leser wünschen ich, Sylvia Lukassen, und Rolf Kiesendahl, der die vielen schönen Fotos für Das ewige Blau macht, Joyeux Noël et bonne année.


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