Der Hafen von Sanary-sur-Mer lädt zum Verweilen ein.

Das kleine romantische Sanary-sur-Mer ist ein Kapitel deutscher Geschichte

2. Januar 2021 | 0 Kommentare

Rund 16.600 Einwohner zählt der Ferienort an der Côte d'Azur zwischen Toulon und Marseille. Die schöne Altstadt und Hafenpromenade, die bunten Fischerboote ziehen im Sommer Tausende von Touristen an. Zwischen 1933 und 1942 fanden dort vor allem deutsche Schriftsteller Zuflucht.

Der Philosoph und Schriftsteller Ludwig Marcuse (1894-1971) titelte in seinen Lebenserinnerungen „Mein zwanzigstes Jahrhundert“ das Kapitel, welches das Exil in Sanary-sur-Mer beschreibt, mit „Hauptstadt der deutschen Literatur“. Geben wir diesen Titel heute bei Google ein, stoßen wir sofort auf Sanary-sur-Mer und den Teil seiner Historie, die mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland verbunden ist. Begeben wir uns also dort auf die Spuren deutscher Schriftsteller, lernen etwas über unsere eigene Geschichte und stellen das reine Urlaubsvergnügen für ein paar Stunden an die Seite.

„Parcours de mémoire“

Im Office de Tourisme am Quai du Levant gibt es das Faltblatt „Parcours de mémoire – Auf den Spuren der Exil-Schriftsteller“. Auf dem drei Kilometer langen Rundgang durch die engen Gassen der Altstadt mit kleinen Geschäften und hübschen Restaurants kommt der Besucher an den Häusern von Bruno Frank (Villa la Côte Rouge) und Thomas Mann (Villa La Tranquille) vorbei. An der Hafenpromenade befinden sich das Café du Port – La Marine, Le Nautique (Chez Schwob) und das Café de Lyon. Hier überall trafen sich Literaten, aber auch Fotografen und Maler. Bertolt Brecht schüttete dort mit Gesang zur Gitarre seinen Spott über Hitler und Goebbels aus.

Hôtel de la Tour, Hafenkneipen und Gedenktafel

Am Beginn der Promenade liegt das legendäre Hôtel de la Tour, das 1898 eines der ersten Hotels in Sanary war. Seit 1930 gehört es der Familie Mercier. Géraldine und Franck betreiben dieses Haus voller Geschichte in dritter Generation. Dort wohnten u.a. die Kinder Erika und Klaus des Literatur-Nobelpreisträgers Thomas Mann.

Verlässt man den außerhalb der Hochsaison beschaulichen historischen Ortskern, gelangt man Richtung Westen, hinter dem Hôtel de la Tour vorbei, über die Rue Jean Jaurès und die Avenue Portissol in die Ortsteile Portissol, La Cride und Beaucours, wo die Häuser stehen, in denen u.a. Lion Feuchtwanger oder der Brite Aldous Huxley („Schöne neue Welt“) wohnten. Für diesen erweiterten Spaziergang sollten zusätzlich zwei Stunden eingeplant werden.

Zurück im Centre Ville: Seit 1989 erinnert die Gemeinde mit einer Gedenktafel an die Schriftsteller und die anderen Künstler aus Deutschland und Österreich, die dort im Exil lebten und arbeiteten. 68 Namen stehen auf der Tafel vor dem Tourismusbüro. Nach der Erkundung des schönen Sanary-sur-Mer lohnt es sich, tiefer in die Zeit der Exil-Schriftsteller einzutauchen. Vielleicht bei einem Glas Rosé in einer der ehemaligen Hafenkneipen oder auf der Terrasse des Hôtel de la Tour.

Marcuse lebte sechs „unglücklich-glückliche Jahre“ in Sanary

Der Philosoph Ludwig Marcuse war einer der ersten Exilanten in Sanary-sur-Mer. Am Tag nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 verließ er mit seiner Frau Deutschland, lebte zunächst in der Nähe von Nizza, bevor er nach Sanary umzog. 1939 ging das Paar in die USA und kam 1962 zurück nach Deutschland, nach Bad Wiessee.

Das Buch von Manfred Flügge ist ein wertvoller Reisebegleiter.
Foto: Aufbau-Verlag

Manfred Flügge schreibt in seinem Buch „Das flüchtige Paradies“, dass Ludwig Marcuse Gesprächspartner all der anderen Schriftsteller war, die nach 1933 für kürzere oder längere Zeit hierherkamen und Sanary in ein „sehr umfangreiches romanisches Café mit Marmortischen und Badehosen“ verwandelten. Und er zitiert weiter: „Am verliebtesten war ich in die adoptierte Heimat, wenn ich zur Zeit des ausgehenden Tages vor dem Café de la Marine saß oder nebenan bei der Witwe Schwob. … Der wuchtige alte Festungsturm, nun umschlossen von einem Hotel (Anm.: das Hôtel de la Tour) …, fing an zu schweben.“

Sanary hat seinen alten Charme nicht verloren

Eine wundervolle Beschreibung des kleinen Fischerortes Sanary, der seinen alten Charme nicht verloren hat, selbst wenn viele Touristen die Gassen und die Hafen-Quais bevölkern und mit kleinen Yachten auf das blaue Meer hinausfahren. Und dennoch: Ein kleines Paradies ist Sanary heute, während des Hitler-Regimes war es das nicht wirklich. Marcuse schreibt: „Ja, wir waren in jenem Teil des Landes, in dem die glücklichsten Franzosen landen: die Rentiers. Alles war azurblau, nur nicht unser Gemüt. … Wir wohnten im Paradies – notgedrungen.“

Die Côte d’Azur war Zufluchtsort für die Familie Mann

Auch für die deutsche Literaten-Familie Mann war die Côte d’Azur Zufluchtsort während des Nationalsozialismus. So kam Thomas Mann (1875-1955) im Mai 1933 mit seiner Frau Katia nach Bandol, wo sie zunächst in einem Hotel wohnten. Nach einiger Zeit fand das Paar ein Haus in Sanary-sur-Mer, die Villa La Tranquille am Chemin de la Colline. Dazu schrieb Thomas Mann: „Wir sind in unserem hübschen, kultiviert wohnlichem Hause, … Ich glaube, dass wir in diesem Haus glücklich sein werden.“ Dennoch verließen die Manns dieses Haus immer wieder – und kehrten zurück.

Thomas Manns Kinder Erika (1905-1969) und Klaus (1906-1949) – es gab weitere vier Geschwister – kamen im Mai 1933 nach Sanary. Sie zogen ins Hôtel de la Tour ein. Dort hatte Klaus die Idee für eine Exilzeitschrift, die schließlich in einem Verlag in Amsterdam erschien. Als er nach weiteren Stationen im April 1936 wieder im Hôtel de la Tour abstieg, schrieb er: „Freude des Wiedersehens mit Sanary. Hübscher Blick von meinem Zimmer auf die Bucht mit den Booten“ (zitiert von M. Flügge in „Das flüchtige Paradies“).

Diesen Blick auf die Bucht mit den Booten genießt der Reisende heute auch von der Restaurant-Terrasse des Hôtel de la Tour (www.sanary-hoteldelatour.com) und denkt dabei vielleicht an bedeutende Werke der Exilliteratur wie „Die Geschwister Oppermann“ und „Exil“ von Lion Feuchtwanger, „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann, „Mephisto“ von Klaus Mann oder „Die Witwe Bosca“ von René Schickele.

Von Frankreich nach Amerika

  • Während der Zeit des Nationalsozialismus nahm Frankreich die meisten deutschsprachigen Flüchtlinge auf. Seine Grenzen blieben bis kurz vor Kriegsausbruch offen. Nur wenige Exilanten hatten eine Aufenthaltserlaubnis.
  • Da Schriftsteller kein Berufsverbot hatten, entstanden in Paris zahlreiche Exil-Verlage, die deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften herausgaben.
  • Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich die Lage der Schriftsteller und Künstler aber auch in Frankreich zunehmend. Viele mussten erneut fliehen und fanden in den Vereinigten Staaten von Amerika Zuflucht.

Manfred Flügge: „Das flüchtige Paradies“ – ein wertvoller Reisebegleiter

Manfred Flügge, geboren 1946, ist der Autor des Buches „Das flüchtige Paradies – Deutsche Schriftsteller im Exil an der Côte d’Azur“, erschienen 2019 im Aufbau Verlag www.aufbau-verlag.de

Manfred Flügge.
Foto: Aufbau-Verlag

Flügge gibt einen umfangreichen Einblick in das Leben der Literaten an der französischen Mittelmeerküste während des Nationalsozialismus. Der kleine Ort Sanary-sur-Mer spielt dabei eine besondere Rolle. Das Sachbuch liest sich leicht, streckenweise wie ein Roman. Es ist als wertvoller Begleiter einer Reise nach Sanary, Bandol, Le Lavandou und Nizza zu empfehlen.

Flügge studierte Romanistik und Geschichte in Münster und Lille, war Dozent an der Freien Universität Berlin und lebt heute als freier Autor und Übersetzer. Er erhielt den Literaturpreis „Hommage à la France“ und den „Prix Jean Monnet du Dialogue Européen“.

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